Tanka
Einunddreißig Februar 2021
Feld für Feld
male ich das Mandala
aus
auch die Beziehung
unserer Freunde
Einunddreißig Februar 2021
zwei rechts, zwei links
er liebt mich, er liebt mich nicht...
und wieder zurück
das Flüstern der jungen Frau
bis der Faden endet
Einunddreißig August 2020
wie sie glänzen
die tiefroten Äpfel
in Nachbars Garten
schon strecke ich meine Hand
ganz Eva im Paradies
Einunddreißig August 2020
wäre ich ein Vogel
würde ich hinauf fliegen
zum Tor des Olymp
einmal den Göttern lauschen
an der Schwelle von Tag und Nacht
Einunddreißig Februar 2020
dieser sanfte Blick
meines kleinen Großkindes
wenn er etwas will
da sollte ich zuweilen
eine Rüstung anlegen
Einunddreißig Februar 2020
zwischen den Wolken
dreht sich das kleine Mädchen
im Apfelgarten
die weiß gestrichene Bank
immer schon mein Lieblingsplatz
aufgeplatzt
längst vergangene Wunden
in die Erde
lege ich Samen um Samen
für eine gute Zukunft
Einunddreißig Februar 2019
nach dem Gewitter
so leicht und frei fühl ich mich
an der frischen Luft
wie das Laub der Bäume
von Staub und Schweiß befreit
Einunddreißig Februar 2019
im Geigenkasten
nur eine kleine Münze
als Lohn
in hohen Tönen klingend
die Wehmut schwerer Tage
Einunddreißig November 2018
Einunddreißig Mai 2018
ein Herbstabend
mit den Fotos der Kinder
so bunt wie Laub
nach dem eigenen Geschmack
kleiden sie sich jetzt dunkel
Einunddreißig Mai 2018
im ersten Frost
an der alten Stadtmauer
späte Rosen
Schutz und Halt suchend
zwei betagte Marktfrauen
Einunddreißig November 2017
im Wind des Meeres
duftet das leuchtende Gelb
der Ginsterbüsche
am heutigen Tag lauter
die Stimmen der Möwen
Einunddreißig August 2017
die alte Vase
mit den blühenden Veilchen
zusammengeklebt
wie das Leben der Tante
vor den Leuten besteht
Einunddreißig Mai 2017
Einunddreißig Februar 2017
ein lautes Kreischen
in der Stille des Waldes
meine Gedanken
zählen die Jahresringe
dieser alten Esche
Einunddreißig November 2016
Rücken an Rücken
mit dem Stamm der alten Linde
schrumpfe ich
unter den Jahrhunderten
zur Eintagsfliege
back to back
with the trunk of the old lime
I shrink
under centuries
to a mayfly
Chrysanthemum Nr. 20. Oktober 2016
losgelöst
auf Wolken getragen
einen Sommer lang
und als der Winter kam
ausgerutscht
Einunddreißig Mai 2016
ihr nacktes Gesicht
wenn er sie morgens weckt
bevor
sie wieder Schicht für Schicht
Farben aufträgt
Einunddreißig Mai 2016
her bare face
when he wakes her in the morning
before
she applies layer by layer
colors again
Chrysanthemum Nr. 18. Oktober 2015
lautstark
noch hat er es zu sagen
Vater
zu einem Terrier geworden
in seinem hohen Alter
Einunddreißig August 2015
diese Dunkelheit
wenn der Mond sich verbirgt
schluckt alle Farben
so denke ich an den Tag
den Raps im Sonnenschein
Einunddreißig August 2015
unermesslich die Zahl
der Sterne
doch es ist das Mondlicht
das dein Lächeln vertieft
Einunddreißig, Februar 2015
Blütenblätter
vom strömenden Regen
gemeinsam
mit meinen Gefühlen
in die Gosse gespült into the gutter
pouring rain
petals
washed with
my feelings
into the gutter
Chrysanthemum Nr. 16. Oktober 2014
unausweichlich
das Zirpen der Zikaden
im Abendwind
kommen die Erinnerungen
an den toten Bruder
Einunddreißig, November 2014
Parallelwelten –
manchmal scheint es mir gut
den Weg
zu kennen, um manchmal
dort auszusteigen
Einunddreißig, August 2014
wie eiskalter Wind
in meinem Nacken
immer noch
wenn jemand mit
deiner Stimme spricht
as icy wind
in my neck
still
whenever someone speaks
with your voice
Chrysanthemum 15, April 2014
einsam
unter Menschen
allein
die Spinne in der Ecke
seilt sich zu mir herab
Einunddreißig, Februar 2014
zu alt
für wilde Kinderspiele
zu jung
für den Winter
in meinen Knochen
Einunddreißig, November 2013
Ostwind
auf den Spuren unserer
Vergangenheit
die alten Bäume hörten
Anne Franks Lachen
Einunddreißig, August 2013
laut Wetterbericht
ein sommerlicher Tag
doch am Ende
zieht ein Gewitter auf
zwischen dem Liebespaar
Einunddreißig, August 2013
gefangenin meiner Magengrube
ein Vogel
heute öffne ich ihm
die Tür ins Freie
im Sommergras der DHG Nr. 90, September 2010
Weidenblüten
in der Frühlingssonne
unwillkürlich
zucke ich zusammen
im Schlagschatten des Windrades
im Sommergras der DHG Nr. 89, Juni 2010
eine Wiese
hast Du mir gesät
immerhin
jetzt warte ich
auf den Sommer
April 2010
am Bahnhof
...die Tränen
nimmt der Regen mit
im Gepäck
mein alter Teddy
im Sommergras der DHG Nr. 83, Dezember 2008
Rezension Brigitte ten Brink
Weggefährten
Silvia Kempen und Gabriele Hartmann: Weggefährten. Foto-Tanka-Strecke. Erschienen im bon-say-verlag 2021. ISBN978-3-945890-29-5
„Weggefährten“ lautet der Titel dieses Partnerprojektes von Silvia Kempen und Gabriele Hartmann. Weggefährtinnen sind auch sie. Seit vielen Jahren widmen sich SK und GH, so ihre Autorenkürzel, gemeinsam der japanischen Partnerdichtung und schreiben Rengay, Doppel-Rengay, Tan-Renga und nun diese Foto-Tanka-Strecke. Die lose miteinander verknüpften Fixpunkte dieser Strecke sind die Fotos und die Tanka, jeweils zwölf an der Zahl, abwechselnd von den beiden Autorinnen verfasst und durch die in der japanischen Partnerdichtung bekannten Regeln „Link“ und „Shift“ miteinander verknüpft.
Auf den linken Seiten des Büchleins präsentieren sich die Fotos, auf der rechten Seite das von dem jeweils vorhergehenden Foto inspirierte Tanka, an das sich ein Foto derselben Autorin anschließt: So ist der Startpunkt der Strecke ein Foto von SK, dem ein Tanka und ein Foto von GH folgt. SK antwortet auf das Tanka und das Foto ihrer Vorgängerin wiederum mit einem Tanka und einem Foto und so fort bis die Strecke im letzten Tanka zu ihrem Endpunkt kommt, der durch einen Rücklink eine Brücke zum Startfoto und dem daran anknüpfendem ersten Tanka schlägt.
Foto 1 (SK)
Tanka 1
die Rille
dieser Schallplatte – auch sie hat
Anfang und Ende
woran ich nicht denken mag
mitten im Song „Eternity“ *
GH
Foto 12 (GH)
Tanka 12
Lockdown –
Musik von nebenan
durch die Lücke
der neue Nachbar trainiert
mit nacktem Oberkörper
SK
Beim Betrachten der Fotos und Lesen der Tanka wird der Leser ebenfalls zum Weggefährten. Er schreitet mit den Autorinnen von Foto zu Tanka zu Foto zu Tanka … und auf diesem Pfad wird er immer wieder angezogen und überrascht von den visuellen und sprachlichen Einfällen der Verfasserinnen bis hin zum Endpunkt, der als Wegweiser zurück zum Startpunkt fungieren kann, um diesen Spaziergang noch einmal zu machen (was ich zum Beispiel sofort getan habe). Angedeutet ist diese Möglichkeit auch in dem in zarten Grautönen gehaltenen Coverfoto „Labyrinth“ von Gabriele Hartmann. Ist es in der griechischen Mythologie der Faden der Ariadne, der den Weg weist, sind es in dem Buch die Verknüpfungen (Links) der fortschreitend entstehenden Ebenen (Shifts), die dem Leser auf dieser Strecke immer wieder neue Perspektiven öffnen, ihn auf weitere Aspekte hinweisen, bis sich der Kreis am Ende schließt.
Unterwegs auf dieser Strecke begegnen dem Leser wunderbar fotografierte Impressionen und eindrücklich formulierte Texte mit einer großen inhaltlichen Spannbreite. Geschrieben wird über Emotionales (die Unbändigkeit des frisch Verliebtseins), individuell Erlebtes (die Beobachtung eines Jungen, der mit seinem Vater einen Drachen steigen lässt), die aktuelle reale gesellschaftliche Situation (Inzidenzwerte googeln) bis hin zu gesellschaftlichen Phänomenen (der Boom von Onlinepartnervermittlungen).
statt Wetterbericht
Inzidenzwerte googeln –
die Treppe hoch
für die nächsten Monate
unsere Arche
SK
ich schärf mein Profil
denn alle 11 Minuten
verliebt sich ein Single
auf Parship … und frag mich doch
wie’s mit der Gegenliebe steht
GH
Jedes dieser prägnanten und ausdrucksstarken Tanka kann für sich alleine stehen. In der Verbindung mit den Fotos und in den Verbindungen der Fotos und der Texte untereinander entsteht jedoch ein poetisches Gesamtwerk, das Gänsehaut hinterlässt, ein Hingucker ist und das noch genügend Spielraum für die Phantasie und die Auslegung des Lesers lässt –
lesenswert von der ersten bis zur letzten Seite.
Im Anhang geben Silvia Kempen und Gabriele Hartmann einen Einblick in ihre Vorgehensweise bei der Anordnung der Fotos und der Texte, ihren Verknüpfungspunkten, sowie eine Erläuterung zum Wechsel der Ebenen und ihren Themengrundlagen. Interessierte können sich von Gabriele Hartmann eine Excel-Tabelle mit der detaillierten Auflistung der jeweiligen Links und Shifts unter info@bon-say.de schicken lassen.
*„Eternity“ ist ein Songtitel von Robbie Williams
Rezension Rüdiger Jung
Silvia Kempen & Gabriele Hartmann
Weggefährten. Foto-Tanka-Strecke
bon-say-verlag, 2021. ISBN 978-3-945890-29-5
Immer wieder gelingt es Gabriele Hartmann – und ihren Ko-AutorInnen – auf dem Gebiet der Kurz- und Partner-Dichtung nach japanischem Vorbild Neues und Wegweisendes zutage zu fördern. Auch im Falle dieser „Foto-Tanka-Strecke“, der so erhellende wie inspirierende Zeilen zum Bau- und Kompositions-Prinzip dieser Art von Poesie zur Seite gestellt sind. Gegängelt oder bevormundet wird der Leser dadurch keineswegs : Die vorliegenden Tanka haben durchaus die Kraft, alleine zu (be)stehen.“ Wobei sie zumindest dazu tendieren, mit den unmittelbar benachbarten Fotos im Auge des Betrachters eine enge Symbiose einzugehen. Den Reiz gemeinsamen Schreibens und Veröffentlichens macht dabei aus, das durchaus unterschiedliche Charaktere zusammenkommen:
du bist wie Feuer
und die Finger möcht’ ich mir
verbrennen, sagst du
– da verlier ich Kopf und Herz
ans sonst so stille Wasser (GH)
Bei folgendem Tanka fasziniert mich die vierte Zeile als Dreh- und Angelpunkt: sie kann in gleicher Weise auf die ersten drei Zeilen wie auf die letzte bezogen werden:
hellbraun
die Augen des Jungen
hin und her
an der Leine des Vaters
wiegt sich ein bunter Drachen (SK)
Das durch den Umschlag der „Weggefährten“ sehr prägende Labyrinth-Motiv kulminiert in folgendem Tanka – an der Seite eines eindrücklichen Fotos:
auf jeder Kreuzung
hab ich mich klar entschieden
doch dreh ich mich um
sind verworren die Fäden
an denen ich hänge (GH)
Selbst der lebensrettende Ariadne-Faden kann einen folglich zur Marionette machen! In einer besonderen Beziehung zum benachbarten Foto steht auch das Tanka‚ mit dem ich meine kleine Betrachtung beschließen möchte:
in der Dunkelheit
drei Tage und drei Nächte
bis am Ende
die Sonne wieder aufgeht
ist mein Name Arielle (SK)
Vom abschließenden Namen eines Luftgeists in seiner weiblichen Lautung abgesehen steht das Tanka ganz in einem biblischen Assoziationsfeld: jenem des Jona-Buches. Der Türgriff auf dem Foto zeigt den Wal-„fisch“, der Jona verschlingt. Matthäus 12, 40 liest das Jona-Buch zeichnishaft für Kreuz und Auferstehung Jesu. Ein durchaus österliches Motiv, wenn „am Ende / die Sonne wieder aufgeht“!