Montag, 24. Mai 2021

Tanka

Tanka





Einunddreißig Februar 2021



Feld für Feld 
male ich das Mandala 
aus 
auch die Beziehung 
unserer Freunde

Einunddreißig Februar 2021



zwei rechts, zwei links 
er liebt mich, er liebt mich nicht... 
und wieder zurück 
das Flüstern der jungen Frau 
bis der Faden endet

Einunddreißig August 2020



wie sie glänzen 
die tiefroten Äpfel 
in Nachbars Garten 
schon strecke ich meine Hand 
ganz Eva im Paradies 

Einunddreißig August 2020



wäre ich ein Vogel 
würde ich hinauf fliegen 
zum Tor des Olymp 
einmal den Göttern lauschen 
an der Schwelle von Tag und Nacht 

Einunddreißig Februar 2020



dieser sanfte Blick 
meines kleinen Großkindes 
wenn er etwas will 
da sollte ich zuweilen 
eine Rüstung anlegen

Einunddreißig Februar 2020



zwischen den Wolken 
dreht sich das kleine Mädchen 
im Apfelgarten 
die weiß gestrichene Bank 
immer schon mein Lieblingsplatz 

Einunddreißig Mai 2019



aufgeplatzt 
längst vergangene Wunden 
in die Erde 
lege ich Samen um Samen 
für eine gute Zukunft 

Einunddreißig Februar 2019



nach dem Gewitter 
so leicht und frei fühl ich mich 
an der frischen Luft 
wie das Laub der Bäume 
von Staub und Schweiß befreit 

Einunddreißig Februar 2019



im Geigenkasten 
nur eine kleine Münze 
als Lohn 
in hohen Tönen klingend 
die Wehmut schwerer Tage 

Einunddreißig November 2018





Einunddreißig Mai 2018



ein Herbstabend 
mit den Fotos der Kinder 
so bunt wie Laub
nach dem eigenen Geschmack 
kleiden sie sich jetzt dunkel 

Einunddreißig Mai 2018



im ersten Frost 
an der alten Stadtmauer 
späte Rosen 
Schutz und Halt suchend 
zwei betagte Marktfrauen

Einunddreißig November 2017



im Wind des Meeres 
duftet das leuchtende Gelb 
der Ginsterbüsche 
am heutigen Tag lauter 
die Stimmen der Möwen 

Einunddreißig August 2017



die alte Vase 
mit den blühenden Veilchen 
zusammengeklebt 
wie das Leben der Tante 
vor den Leuten besteht 

Einunddreißig Mai 2017





Einunddreißig Februar 2017



ein lautes Kreischen 
in der Stille des Waldes 
meine Gedanken 
zählen die Jahresringe 
dieser alten Esche

Einunddreißig November 2016



Rücken an Rücken
mit dem Stamm der alten Linde
schrumpfe ich
unter den Jahrhunderten
zur Eintagsfliege




back to back
with the trunk of the old lime
I shrink
under centuries
to a mayfly

Chrysanthemum Nr. 20. Oktober 2016



losgelöst 
auf Wolken getragen 
einen Sommer lang 
und als der Winter kam 
ausgerutscht 

Einunddreißig Mai 2016



ihr nacktes Gesicht
wenn er sie morgens weckt  
bevor
sie wieder Schicht für Schicht
Farben aufträgt

Einunddreißig Mai 2016



her bare face
when he wakes her in the morning
before
she applies layer by layer
colors again

Chrysanthemum Nr. 18. Oktober 2015 



lautstark 
noch hat er es zu sagen 
Vater 
zu einem Terrier geworden 
in seinem hohen Alter

Einunddreißig August 2015



diese Dunkelheit 
wenn der Mond sich verbirgt 
schluckt alle Farben 
so denke ich an den Tag 
den Raps im Sonnenschein

Einunddreißig August 2015





Einunddreißig Mai 2015




Frühlingsduft –
unermesslich die Zahl
der Sterne
doch es ist das Mondlicht
das dein Lächeln vertieft

Einunddreißig, Februar 2015



Blütenblätter
vom strömenden Regen
gemeinsam
mit meinen Gefühlen  
in die Gosse gespült into the gutter 



pouring rain
petals
washed with
my feelings
into the gutter

Chrysanthemum Nr. 16. Oktober 2014  




unausweichlich 
das Zirpen der Zikaden 
im Abendwind 
kommen die Erinnerungen 
an den toten Bruder 

Einunddreißig, November 2014



Parallelwelten – 
manchmal scheint es mir gut 
den Weg 
zu kennen, um manchmal 
dort auszusteigen 

Einunddreißig, August 2014



wie eiskalter Wind 
in meinem Nacken 
immer noch 
wenn jemand mit 
deiner Stimme spricht 



as icy wind
in my neck
still
whenever someone speaks
with your voice

Chrysanthemum 15, April 2014



einsam 
unter Menschen 
allein
die Spinne in der Ecke 
seilt sich zu mir herab 

Einunddreißig, Februar 2014



zu alt 
für wilde Kinderspiele 
zu jung 
für den Winter 
in meinen Knochen 

Einunddreißig, November 2013



Ostwind
auf den Spuren unserer
Vergangenheit
die alten Bäume hörten
Anne Franks Lachen

Einunddreißig, August 2013



laut Wetterbericht
ein sommerlicher Tag
doch am Ende
zieht ein Gewitter auf
zwischen dem Liebespaar

Einunddreißig, August 2013



gefangen
in meiner Magengrube
ein Vogel
heute öffne ich ihm
die Tür ins Freie

im Sommergras der DHG Nr. 90, September 2010



Weidenblüten
in der Frühlingssonne
unwillkürlich
zucke ich zusammen
im Schlagschatten des Windrades

im Sommergras der DHG Nr. 89, Juni 2010



eine Wiese
hast Du mir gesät
immerhin
jetzt warte ich
auf den Sommer

April 2010


am Bahnhof
...die Tränen
nimmt der Regen mit
im Gepäck
mein alter Teddy

im Sommergras der DHG Nr. 83, Dezember 2008







Rezension Brigitte ten Brink

Weggefährten

Silvia Kempen und Gabriele Hartmann: Weggefährten. Foto-Tanka-Strecke. Erschienen im bon-say-verlag 2021. ISBN978-3-945890-29-5
Zu beziehen unter info@bon-say.de

„Weggefährten“ lautet der Titel dieses Partnerprojektes von Silvia Kempen und Gabriele Hartmann. Weggefährtinnen sind auch sie. Seit vielen Jahren widmen sich SK und GH, so ihre Autorenkürzel, gemeinsam der japanischen Partnerdichtung und schreiben Rengay, Doppel-Rengay, Tan-Renga und nun diese Foto-Tanka-Strecke. Die lose miteinander verknüpften Fixpunkte dieser Strecke sind die Fotos und die Tanka, jeweils zwölf an der Zahl, abwechselnd von den beiden Autorinnen verfasst und durch die in der japanischen Partnerdichtung bekannten Regeln „Link“  und „Shift“ miteinander verknüpft. 
Auf den linken Seiten des Büchleins präsentieren sich die Fotos, auf der rechten Seite das von dem jeweils vorhergehenden Foto inspirierte Tanka, an das sich ein Foto derselben Autorin anschließt:  So ist der Startpunkt der Strecke ein Foto von SK, dem ein Tanka und ein Foto von GH folgt. SK antwortet auf das Tanka und das Foto ihrer Vorgängerin wiederum mit einem Tanka und einem Foto und so fort bis die Strecke im letzten Tanka zu ihrem Endpunkt kommt, der durch einen Rücklink eine Brücke zum Startfoto und dem daran anknüpfendem ersten Tanka schlägt.

Foto 1 (SK)




Tanka 1

die Rille
dieser Schallplatte – auch sie hat
Anfang und Ende
woran ich nicht denken mag
mitten im Song „Eternity“ *
GH

Foto 12 (GH)




Tanka 12

Lockdown –
Musik von nebenan
durch die Lücke
der neue Nachbar trainiert
mit nacktem Oberkörper
SK

Beim Betrachten der Fotos und Lesen der Tanka wird der Leser ebenfalls zum Weggefährten. Er schreitet mit den Autorinnen von Foto zu Tanka zu Foto zu Tanka … und auf diesem Pfad wird er immer wieder angezogen und überrascht von den visuellen und sprachlichen Einfällen der Verfasserinnen bis hin zum Endpunkt, der als Wegweiser zurück zum Startpunkt fungieren kann, um diesen Spaziergang noch einmal zu machen (was ich zum Beispiel sofort getan habe). Angedeutet ist diese Möglichkeit auch in dem in zarten Grautönen gehaltenen Coverfoto „Labyrinth“ von Gabriele Hartmann. Ist es in der griechischen Mythologie der Faden der Ariadne, der den Weg weist, sind es in dem Buch die Verknüpfungen (Links) der fortschreitend entstehenden  Ebenen (Shifts), die dem Leser auf dieser Strecke immer wieder neue Perspektiven öffnen, ihn auf weitere Aspekte hinweisen, bis sich der Kreis am Ende schließt. 
Unterwegs auf dieser Strecke begegnen dem Leser wunderbar fotografierte Impressionen und eindrücklich formulierte Texte mit einer großen inhaltlichen Spannbreite.  Geschrieben wird über Emotionales (die Unbändigkeit des frisch Verliebtseins), individuell Erlebtes (die Beobachtung eines Jungen, der mit seinem Vater einen Drachen steigen lässt), die aktuelle reale gesellschaftliche Situation (Inzidenzwerte googeln) bis hin zu gesellschaftlichen Phänomenen (der Boom von Onlinepartnervermittlungen). 

statt Wetterbericht
Inzidenzwerte googeln –
die Treppe hoch
für die nächsten Monate
unsere Arche
SK

ich schärf mein Profil
denn alle 11 Minuten
verliebt sich ein Single
auf Parship … und frag mich doch
wie’s mit der Gegenliebe steht
GH 

Jedes dieser prägnanten und ausdrucksstarken Tanka kann für sich alleine stehen. In der Verbindung mit den Fotos und in den Verbindungen der Fotos und der Texte untereinander entsteht jedoch ein poetisches Gesamtwerk, das Gänsehaut hinterlässt, ein Hingucker ist und das noch genügend Spielraum für die Phantasie und die Auslegung des Lesers lässt – 
lesenswert von der ersten bis zur letzten Seite. 
 
Im Anhang geben Silvia Kempen und Gabriele Hartmann einen Einblick in ihre Vorgehensweise bei der Anordnung der Fotos und der Texte, ihren Verknüpfungspunkten, sowie eine Erläuterung zum Wechsel der Ebenen und ihren Themengrundlagen. Interessierte können sich von Gabriele Hartmann eine Excel-Tabelle mit der detaillierten Auflistung der jeweiligen Links und Shifts unter info@bon-say.de schicken lassen.   

*„Eternity“ ist ein Songtitel von Robbie Williams 



Rezension Rüdiger Jung

Silvia Kempen & Gabriele Hartmann
Weggefährten. Foto-Tanka-Strecke
bon-say-verlag, 2021. ISBN 978-3-945890-29-5


Immer wieder gelingt es Gabriele Hartmann – und ihren Ko-AutorInnen – auf dem Gebiet der Kurz- und Partner-Dichtung nach japanischem Vorbild Neues und Wegweisendes zutage zu fördern. Auch im Falle dieser „Foto-Tanka-Strecke“, der so erhellende wie inspirierende Zeilen zum Bau- und Kompositions-Prinzip dieser Art von Poesie zur Seite gestellt sind. Gegängelt oder bevormundet wird der Leser dadurch keineswegs : Die vorliegenden Tanka haben durchaus die Kraft, alleine zu (be)stehen.“ Wobei sie zumindest dazu tendieren, mit den unmittelbar benachbarten Fotos im Auge des Betrachters eine enge Symbiose einzugehen. Den Reiz gemeinsamen Schreibens und Veröffentlichens macht dabei aus, das durchaus unterschiedliche Charaktere zusammenkommen:

du bist wie Feuer
und die Finger möcht’ ich mir
verbrennen, sagst du
– da verlier ich Kopf und Herz
ans sonst so stille Wasser                   (GH)

Bei folgendem Tanka fasziniert mich die vierte Zeile als Dreh- und Angelpunkt: sie kann in gleicher Weise auf die ersten drei Zeilen wie auf die letzte bezogen werden:

hellbraun
die Augen des Jungen
hin und her
an der Leine des Vaters
wiegt sich ein bunter Drachen               (SK)

Das durch den Umschlag der „Weggefährten“ sehr prägende Labyrinth-Motiv kulminiert in folgendem Tanka – an der Seite eines eindrücklichen Fotos:

auf jeder Kreuzung
hab ich mich klar entschieden
doch dreh ich mich um
sind verworren die Fäden
an denen ich hänge                  (GH)

Selbst der lebensrettende Ariadne-Faden kann einen folglich zur Marionette machen! In einer besonderen Beziehung zum benachbarten Foto steht auch das Tanka‚ mit dem ich meine kleine Betrachtung beschließen möchte:

in der Dunkelheit
drei Tage und drei Nächte
bis am Ende
die Sonne wieder aufgeht
ist mein Name Arielle                (SK)

Vom abschließenden Namen eines Luftgeists in seiner weiblichen Lautung abgesehen steht das Tanka ganz in einem biblischen Assoziationsfeld: jenem des Jona-Buches. Der Türgriff auf dem Foto zeigt den Wal-„fisch“, der Jona verschlingt. Matthäus 12, 40 liest das Jona-Buch zeichnishaft für Kreuz und Auferstehung Jesu. Ein durchaus österliches Motiv, wenn „am Ende / die Sonne wieder aufgeht“!



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