Sonntag, 23. Mai 2021

Haibun










Frühstücksbuffet 

Zwei ältere Damen. Anscheinend kennen sie sich. Eine von ihnen drückt den Zeigefinger in verschiedene Brötchen. Sie beugt sich zurück und sagt „Diese sind weich.“ Dann, eine Unterhaltung ー es geht um Socken. Der Zipfel des Halstuches dippt in den Salat. Wird notdürftig abgewischt. Vor dem Käse wird ausführlich beraten, welcher mild, pikant oder kräftig sei. Die Aussprache ー ein wenig feucht. Regen glitzert in der Morgensonne läuten Kirchglocken Die Schlange wird länger. Der Ruf von hinten „Kann es mal weitergehen?“ wird nicht gehört. Nachdem die Nase der zweiten Frau fast in der roten Grütze landet, sind wohl beide fertig. Sie gehen an ihren Tisch.
 
    Gründonnerstag 
    im Getümmel ganz für sich 
    Freundinnen 

Auch ich gehe an meinen Platz. Auf dem Teller ー so gut wie nichts. 

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(bei Chrysanthemum Nr. 21. April 2017)





Johanna 

Mein erster Gedanke: Ein chinesisches Püppchen. Mit geschlossenen Augen, glänzendem schwarzen Haar. Drei Tage alt und ich darf sie halten. Es ist schon so lange her … ! Samtweich. Ihr Duft. Diese Schwere bei vollkommener Entspannung, diese Wärme an meiner Schulter. Als ich sie wieder abgebe, ist es plötzlich ganz kalt. 

    Fütterungszeit ― 
    im Flussbett die ersten 
    Hungersteine* 

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*Findling, oft mit Jahreszahlen versehen, um an Niedrigwasser mit schlechtem Ernteausfall zu erinnern. 
(bei Chrysanthemum Nr. 18. Oktober 2015)





Wetterfest 

Nur das Gesicht mit großen blauen Augen und die Hände schauen aus dem Regenanzug. „Soll ich Dir zeigen, wie man in den Himmel springt?“ fragt die kleine Gestalt. Noch ehe ich antworten kann, ist es passiert … 

    die Arme weit — 
    vom Birkenast erhebt sich 
    eine Taube

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(bei Chrysanthemum No. 17. April 2015)





Herbstliebe

Ein Duftpotpourri. Gebrannte Mandeln, Fischbrötchen, Bratwurst, … Dazwischen Dosenwerfen, Losbuden, Fahrgeschäfte, …

    auf den Rücken
    der Karussellpferde
    Oma und Opa

Er hat sie hinauf geschoben. Ihr Lächeln – dankbar und liebevoll. Sein Bein mit einem Schwung – und er war neben ihr. Kerzengerade.

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(im Sommergras der DHG Nr. 107, Dezember 2014)





Auf der Mosel 

Traben-Trarbach. Wir kaufen Fahrkarten für das Schiff nach Bernkastel-Kues. Bis zur Abfahrt ist noch Zeit. Gegenüber der Straße ein Museum* . Schwäne, weiß und grau. Die andere Flussseite im Blick des Buddha. Geschlossen! Also zurück. Man kann schon an Bord gehen. Wir nehmen auf dem Oberdeck Platz, obwohl es für Ende August kühl ist. Zwanzig Minuten später beginnt die Tour. Der Kapitän erklärt Orte und Weinberge, mal links, mal rechts. Zwischendurch wird angelegt, um weitere Passagiere aufzunehmen. 

    Dunkle Weintrauben 
    unter ziehenden Wolken 
    eine Sonnenuhr** … 

Auf hohen Betonpfeilern ragt eine angefangene Brücke in den Himmel, die Hochmoselbrücke. In ihrem Schatten, die Reben gerodet. Nach der Schleuse noch Himmelreich** , Domprobst** und Abtsberg** . Von weitem schon die Burgruine Landshut. Schließlich ist der Zielort erreicht. 

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*Das Buddha-Museum am Flussufer beherbergt eine europaweit einmalige Dauerausstellung zur buddhistischen Ikonographie mit ca. 2000 Buddha-Figuren. 
**Bekannte Weinlagenbezeichnungen
(bei Chrysanthemum Nr. 16. Oktober 2014)





Ave Maria 

Wolkenloser Himmel. Jasminduft. Mit geschlossenen Lidern das Gesicht der Sonne darbieten, auf einer Bank unter zwei Eichen. Aus der nahen Kirche Orgeltöne und dann diese helle Stimme. Ich sehe den Engel an der Kirchendecke, den Altar mit zwei Blumensträußen, die rauchblauen Bänke, links die Kanzel und hinten die Empore mit der Orgel. Ich schrecke auf, am Kirchentor reihen sich junge Frauen zum Spalier. Über sich rosa und weiße Hula-Hoop-Reifen. Im Glockenturm rumort es, gleich fangen die Glocken an zu läuten … 

    die Braut 
    die das Band durchschneidet 
    bin ich 

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(bei Chrysanthemum 15, April 2014)





Stille Gebete 

Ein grauer Kasten. Von Wald und Heide umgeben. Das Dokumentationszentrum Bergen-Belsen. Schwer öffnet sich die hohe Tür. Halbdunkel. Bildschirme. Stimmen. Überlebende erzählen. In großen Schaukästen Bilder und Informationen. Aus dem Lagerleben. Von den Zuständen. Über Personen. Manchmal gehe ich schnell weiter. Auf den laufenden Dokumentationsfilm nur ein kurzer Blick, mehr geht nicht. Wieder draußen. 

    Allein 
    mitten im Beton 
    ein Gänseblümchen 

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(bei Chrysanthemum 14, Oktober 2013)





Mittendrin

Massengräber. Dazwischen auf einer Grasfläche Gedenksteine. Auf ihnen türmen sich Kieselsteine.
Im Hintergrund ein Obelisk, die Inschriftenwand und das jüdische Mahnmal.
Am Rand, gerade außerhalb der ehemaligen Lagergrenze, ein kleines Gebäude aus Chromnickelstahl, Glas und Granit.

gefangen
im Haus der Stille –
Brombeerblüten

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(im Sommergras der DHG Nr. 102, September 2013)





Ferne Länder

An der Pinnwand Ansichtskarten vom Flohmarkt. Abgegriffen. Die fremden Handschriften schon lange vertraut.

    Sternschnuppen –
    noch eine Feder
    für den Traumfänger

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(im Sommergras der DHG Nr. 101, Juni 2013)




Flügge 

„Keine Widerrede, du bist noch keine 18!“ „Aber bald“, flüstert sie. „Was hast du gesagt?“ „Nichts.“ 

    scharfer Wind — 
    der junge Spatz erprobt 
    seine Flügel 

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(bei Chrysanthemum  13, April 2013)





Mutter erzählt

Donner und Blitz. Ein Krachen. In der Ofenecke — Großmutter. Ihre Hände auf der Schürze gefaltet. Sie betet. Das macht sie bei jedem Gewitter. Wir Kinder, fünf an der Zahl, am Küchentisch — mucksmäuschenstill. Wieder ein Blitz. Wir zucken zusammen. Jochen, mein kleiner Bruder, schiebt seine Hand in meine Hand. Seine Augen geschlossen. Das Kerzenlicht flackert. Endlich werden die Abstände größer. Dann ist Ruhe. Wir atmen auf.


    Noch heute
    höre ich den Schrei
    der Buche

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(bei Chrysanthemum 12, Oktober 2012)





Kälte

Sonntag, kurz vor sieben. Nur wenige Leute sind unterwegs. Angenehm, diese Stille – nur der Wind pfeift mir hinterher, und bei jedem Schritt raschelt Herbstlaub. Die Straßenlaternen leuchten noch.
Beim Eintreten die Ladenglocke mit einem schönen guten Morgen. Zehn Brötchen und eine Tageszeitung bitte. Der neueste Klatsch geht mit dem Wechselgeld über den Tresen. Auf Wiedersehen!
Ich freue mich schon auf unser Frühstück.

    am Kioskfenster
    eine Suchmeldung:
    die kleine Klara vermisst

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(im Sommergras der DHG Nr. 95, Dezember 2011)





EinSicht

Mein Zug fährt noch nicht. Ich setze mich in die Vorhalle.
Lautsprecherdurchsagen. Menschen eilen zu den Gleisen oder zum Ausgang. Kleine Gruppen oder auch Einzelne wie ich, die warten. Hier und da ein paar Wortfetzen, Kichern, das Rollen von Koffern.
Zwischen Bäcker und Zeitungsladen hin und her ein Mann von hagerer Gestalt, äußerst gepflegt, frisch gestutzter Bart, altmodischer Mantel und eine schwarze Tasche unter dem Arm. Er geht sehr aufrecht, aber dennoch etwas schwerfällig. Das lenkt meinen Blick auf Beine und Füße. Die Hose etwas kurz, die Schuhe zu weit. Weiße Socken? Ich schaue genauer hin und erschrecke. Es sind Verbände, sie sehen blutig aus. 
Ich suche sein Gesicht.

    fremdes Lächeln
    zu Hause wartet
    warmer Kakao

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(im Sommergras der DHG Nr. 92, März 2011)





Zeitreise

Über dem Parkplatz der Geruch offener Feuerstellen. Der Edelmann im Festtagsgewand kassiert 18 „Taler“ von jeder Person. Ein  überdimensionaler Torbogen aus Pappmaché. Durch ihn betreten wir das Mittelalter.
Rechts und links der Wege befinden sich die unterschiedlichsten Verkaufsstände. Dort werden Schnitzereien, Lederwaren, Schmuck, Schmiedearbeiten, Met,  Brot und vieles mehr angeboten. Vor der Gaststube dreht der Wirt in seiner grünen Tunika den Spieß mit dem Ochsen. Die Gastwirtin mit Haube und langer Schürze gibt einem Mädchen Anweisungen. Die Fleischstücke, die sie den Gästen serviert, duften zu uns herüber.
Nach dem letzten Stand öffnet sich der Blick auf die tiefer gelegene ritterliche Zeltstadt. Dort sieht man kleine Rauchfahnen aufsteigen. Seitlich liegt der große Turnierplatz. Ihn umgibt hufeisenförmig die Tribüne, auf der sich schon viele Menschen drängen. Die Menge jubelt. Als die Fanfare erklingt, atemlose Stille und schon reiten zwei Ritter in voller Rüstung mit ihren Lanzen aufeinander zu. Staub wirbelt auf. Im Takt der Pferdehufe die Hammerschläge des nahen Schmieds.
Ein Bettler in löchriges Sackleinen gekleidet rempelt mich an und grinst mit seinem zahnlosen Mund. An der nächsten Ecke die Stimme des Minnesängers. Schon von weitem fällt er in seinem roten Wams mit weißer Strumpfhose auf. Mit der Klampfe begleitet er seine vorgetragenen Verse.
Auf einer Wiese lässt der Falkner seinen Vogel aufsteigen. Mit dem Blick folge ich ihm.

    Zur Burgruine
    in der Mittagssonne
    zwei Schmetterlinge

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(im Sommergras der DHG Nr. 86, September 2009)





Betriebsausflug

Fast Mittag. Pünktlich sind wir am Stand unseres Wattführers, im Hafen von Nessmersiel. Eine kurze Vorstellung mit einigen Anweisungen und los geht es, über das Spülsiel auf dem Erlebnispfad durch die Salzwiese bis zur Abbruchkante.

    Strandflieder
    dunkle Wolken
    ziehen

Die letzte Möglichkeit zum Wechseln der Schuhe. Der Boden wird rutschig und schon sinken wir bei jedem Schritt bis zur Wade ein.

    Möwen
    leichtfüßig
    über das Wattenmeer

Der erste Priel ist recht flach und weitere folgen. Zwischendurch werden Fragen beantwortet und Informationen gegeben. Parallel zur Austernbank gehen wir weiter. Beim Durchqueren wäre die Verletzungsgefahr zu groß. Dann müssen wir durch das Fahrwasser, es ist tief  zu tief. Der Wind treibt das Wasser zurück, das höher steht als üblich. Ein ganzes Stück weiter östlich versuchen wir erneut den Übergang. Geschafft! Fast alle sind bis zum Po durchnässt.

Noch einen Kilometer über Sand und schließlich den Strand hinauf zur Insel...

    Heimfahrt
    Prikken*
    weisen den Weg

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* Prikken = eingerammte Birken, die bei Hochwasser das Fahrwasser markieren.
(im Sommergras der DHG Nr. 84, März 2009)





Ohne Worte ...

Mama und ich in Atlanta. Wir sind für zwei Wochen Gäste der Familie, deren Au-pair-Mädchen meine Nichte ist. Sie betreut zwei Jungen im Alter von zwei und vier Jahren.

Der Kleinere spricht kaum und wenn dann nur einzelne Begriffe wie Dadda = Papa, Babba = Opa, Buh = Gespenst (vor kurzem war Halloween) oder Boo = Schiff. Meine Mutter kann kein Englisch, aber die beiden verstehen sich vom ersten Augenblick an. Jeder weiß oder ahnt, was der andere möchte.

Gemeinsam schauen sie sich Fotos oder Bilderbücher an, die Mahlzeiten werden nebeneinander eingenommen und beim Spaziergang gehen sie Hand in Hand.

    Indian summer
    über den Zaun
    ein Lächeln

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(im Sommergras der DHG Nr. 82, September 2008)





Füße im Sand

Siebenundzwanzig Grad Celsius und blauer Himmel. So schallt es aus irgendeinem Radio. Ich lehne mich zurück und beobachte meine Umgebung.

Der Bärtige schräg hinter mir liest die Tageszeitung. Hingebungsvoll cremt der junge Mann unter dem bunten Sonnenschirm den Rücken seiner Freundin ein. Die Rasselbande vor dem Kiosk belagert ihren Vater. Auf dem Volleyballfeld kommt es bei Teenagern der einen Mannschaft zu Streitereien und weiter vorn, das zierliche Mädchen ruft Ich komme!“.

Es rennt an der Mutter vorbei, die ganz in der Nähe steht. Ein älteres Ehepaar nickt ihr lächelnd zu, geht dann aber weiter.

Ätsch, du bist zu langsam“, ertönt schon wieder die glucksende Stimme der Kleinen. Immer hin und her. Auch andere Spaziergänger schauen dem Treiben eine Weile zu.

    Ein Sommertag
    Fangen spielen
    mit dem Meer

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(im Sommergras der DHG Nr. 80, März 2008)






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