Freitag, 21. Mai 2021

Tan-Renga mit G. Hartmann

Gabriele Hartmann (GH) & Silvia Kempen (SK)




Mutter am Arm
von Eiszapfen gestützt
der morsche Steg

will gar nicht enden heut’
der Strom ihrer Worte

SK / GH

Sommergras Nr. 128, März 2020



heimliche Blicke
das Nest im Ostermoos
immer noch leer

der weiße Briefbogen
zu einem Schiff gefaltet

GH / SK

Sommergras Nr. 125, Juni 2019



Wolken kommen
und gehen – Hand in Hand
zum Horizont

... und dann links
wo die Zukunft wartet

GH / SK

Sommergras Nr. 125, Juni 2019



Morgenlieder
noch während der Regen fällt
werde ich Amsel

betrete den schmalen Pfad
– allein

GH / SK

"Honigspur" Haiku-Jahrbuch 2019




blasse Gräser
der Nebel verändert
seine Worte

zwischen gestern und morgen
wilde Gänse

SK / GH

"Honigspur" Haiku-Jahrbuch 2019



wolkengrau
habe vergessen
was war

... und schrubbe wie jedes Jahr
an seinem Grabstein

GH / SK

aus Rengay; "Morgennachrichten" Haiku-Jahrbuch 2018



Bergwiesen-Tee
über dem Tassenrand
mein linkes Auge

wie sie sich wiegt
Gezeitenwechsel

SK / GH

aus Rengay; 
"Morgennachrichten" Haiku-Jahrbuch 2018



schwerer Atem
am Ende der Leiter
der Himmel

aus Spraydosen
bunte Worte seiner Liebe

GH / SK

Sommergras Nr. 117, Juni 2017



Mitternacht
durch die Gasse folgen mir
meine Schritte

im trauten Hafen
ankert Angst

SK / GH

"Leichte Fracht" 
Haiku-Jahrbuch 2017 



Burnout –
an den Strand galoppieren
Brandungswellen

weißer Schaum umspielt
seine Lippen

SK / GH

Sommergras Nr. 119, Dezember 2017



Krimilesung
kurz vor der Auflösung
ein Handy-Ton

bauscht sich im Wind
die blickdichte Gardine

SK / GH

Sommergras Nr. 119, Dezember 2017



sein Heiratsantrag
unter der Birke ein Ring
aus Winterlingen

das ungestüme Nicken
ihres Ponys


SK / GH

"Südwind" 
Haiku-Jahrbuch 2016



Harfenspiel
ich folge dem Fluss
der Träume

aus deinen Locken
die Kletten zupfen

SK / GH

"Südwind" Haiku-Jahrbuch 2016



in Buddhas Hand
eine Lotosblüte –
Vollmond

zu Boden fällt
geschorenes Haar

SK / GH

Sommergras Nr. 104, März 2014



Abbruchhaus
er schildert die Vorteile
der freien Liebe

eine Tür öffnet sich
in den Himmel

GH / SK

Sommergras Nr. 104" März 2014




maison à démolir
il raconte les avantages
de l’amour libre

une porte s’ouvre
au ciel

GH / SK

Übersetzung Eleonore Nickolay für GONG



Zwiegespräch
sie stellt die Skulptur
zwischen Sonne und Mond

in der Finsternis
Himmelsgucker

GH / SK

Sommergras Nr. 104, März 2014



Coffee to go -
Nur noch kurz
die Welt retten

auf der Domtreppe
Kupfermünzen

SK / GH

Sommergras Nr. 104, März 2014



rinnende Tropfen
an der Scheibe
staut sich ein Wort

in die Stille nach dem Streit
platzt sein Lachen

GH / SK

Sommergras Nr. 104, März 2014




Windeiche
Großmutter erzählt
aus ihrer Kindheit

die Farben auf der Palette
eingetrocknet

SK / GH

"Entropie der Worte", Haiku-Jahrbuch 2013



keine Puppe
Farben des Regenbogens
in Seifenblasen

seine Lippen
formen ein O

SK / GH


"Entropie der Worte", Haiku-Jahrbuch 2013



Mondglanz
der Lack auf ihren Lippen
abgestumpft

das Messer zum Traum
zurücklegen

SK / GH

"Entropie der Worte", Haiku-Jahrbuch 2013



Nachtwache -
unsere Träume schlafen
irgendwo...

unter verwaschenen Hussen
der letzte Sommer

SK / GH

Sommergras Nr. 93, Juni 2011



bis zum Horizont
blaue Blicke - Worte
verlieren sich

in der Fassung des Ringes
Lapislazuli

GH / SK

Sommergras Nr. 93
, Juni 2011 und in "Regler ins Weiß", Haiku-Jahrbuch 2011



gepresst
zwischen Liebe und Lizenz
ein Vergissmeinnicht

im Nest fünf Eier -
der Kater hat Hausarrest

SK / GH

Sommergras Nr. 93
, Juni 2011 und in "Regler ins Weiß", Haiku-Jahrbuch 2011



noch immer
die Melodie von gestern
schnell Kaffee

in meiner Tasse schwankt
das Meer

GH / SK

Sommergras Nr. 93
, Juni 2011 und in "Regler ins Weiß", Haiku-Jahrbuch 2011



im Bombentrichter
treiben schmutzige Wolken
Erinnerungen

der Knall eines Luftballons
lässt ihn zusammenzucken

GH / SK

"Kirschblütenwind", Haiku-Jahrbuch 2010




Leuchtfeuer
im seichten Wasser quillt
ein fahler Mond

um Aphrodites Beine
Schaumkronen

SK / GH

Sommergras Nr. 89, Juni 2010










Rüdiger Jung

... immer noch

Rezension

Silvia Kempen und Gabriele Hartmann. ... immer noch. Rengay, Tan-Renga und 18 Fotos. Din A5. Softcover. 84 Seiten. 10,90 €. zu bestellen nur im bon-say-verlag: info@bon-say.de


Von Wang Wei, einem der ganz großen Dichter und Maler im China der T’ang-Zeit gibt es ein berühmtes, den westlichen Betrachter verblüffendes Selbstporträt: er bietet uns den Hinterkopf! Das Foto auf Seite 1 nimmt diesen Faden auf. Ein geradezu abstrahiertes, verrätseltes Detail daraus schmückt Vorder- (spiegelverkehrt) und Rückseite des vorliegenden Buches. Janusköpfigkeit drückt sich darin aus: ein Blick, der gleichermaßen zurück sieht und nach vorn. Dieses vexierbildhafte unterstreicht, dass sich das "... immer noch" des Titels in "noch immer ..." auf Seite 1 verwandelt.

Die Partnerdichtung Japans ist und bleibt für die Ich-Welt westlicher Lyriker eine große Herausforderung. Gabriele Hartmann (GH) und Silvia Kempen (SK) meistern sie mit Bravour: ein starkes, eingespieltes Team – einander kongenial. 37 Rengay, 53 Tan-Renga, 18 Fotos – Herz, was willst Du mehr? Es finden sich Hokku, die geradezu dem Idealbild des Haiku entsprechen:

    nach dem Schauer
    Kinderfüße zertreten
    den Himmel

    GH

Und immer wieder franziskanische Anklänge:

    geschlossene Schneedecke
    mit den Vögeln das Brot
    teilen

    GH

    Schwanzwedeln
    vor einer Metzgerei
    sie pfeift und pfeift

    GH

    Treibjagd
    im Halbdunkel
    Tarnwesten

    zwischen zwei Salven
    der lachende Hans

    SK / GH

Die Kraft der Musik, Erinnerungen buchstäblich wach zu rufen, wird feinfühlig wahrgenommen:

    noch immer
    die Melodie von gestern
    schnell Kaffee

    in meiner Tasse schwankt
    das Meer

    GH / SK

Es gehört beiderseitige Empathie und Sensibilität, ja, auch ein gutes Stück Harmonierens dazu, komplexe Beziehungsgefüge gemeinsam auf den lyrischen Punkt zu bringen:

    Sonnenuntergang
    in unser Schweigen hinein
    brauen sich Wolken

    knisternd lösen sich Stücke
    vom Kandis im heißen Grog

    GH / SK

    erster Arbeitstag
    an den Kleidern haftet noch
    das Meer

    am Ringfinger blitzt
    ein blasser Streifen

    SK / GH

Den "blassen Streifen" am Finger dürfte – nomen est omen – ein Ring hinterlassen haben, der abgestreift wurde. Hier wird wahrgenommen, nicht erzählt. Der Leser selbst mag sich seinen (gar nicht zwingend eindeutigen) Reim darauf machen.

Frappierend, wenn eine der dichtesten Erfahrungen unserer Existenz – zumal noch auf religiöser Ebene – in die Dimension des Spiels zurückgenommen wird:

    Passion
    Jesus und seine Jünger
    verneigen sich

    GH

Tatsächlich bleiben bei aller immer wieder aufleuchtenden Lebensfreude die Schattenseiten unserer Existenz keineswegs ausgespart. Traumatisierung etwa:

    im Bombentrichter
    treiben schmutzige Wolken
    Erinnerungen

    der Knall eines Luftballons
    lässt ihn zusammenzucken

    GH / SK

Oder auch das Thema Krankheit:

    monoton
    das Ticken des Tropfs
    hinterm Paravent

    GH

    Arzttermin
    den Knoten im Taschentuch
    lösen

    SK

Das Alter als Phase des Abschieds klingt an:

    Elternhaus
    nur ihr Lehnsessel kommt mit
    ins Altersheim

    SK

Nicht wenige der Tan-Renga bieten Stillleben, zeigen Hinterlassenschaften auf – wie das folgende:

    trocken Brot
    am Morgen fehlen
    die Worte

    noch ungelöst
    das Kreuzworträtsel

    GH / SK

Umso erfrischender, wenn eines der Rengay dem hochnotpeinlichen demographischen Wandel letzten Endes die Zunge herausstreckt:

    in jeder Falte
    nistet ein Lächeln
    grau? ja und?

    SK


***



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